Die Spielregeln brechen
von Martin Wassermair //
Interview mit Can Gülcü, dem ehemaligen Leiter der WIENWOCHE (20122015), zu Politisierung, Wirkungsmacht und Zivilgesellschaft.
Der Einsatz und die Bedeutung der Zivilgesellschaft sind seit der so genannten Flüchtlingskrise wieder in aller Munde.
Inwiefern deckt sich das mit deinem Begriff von Zivilgesellschaft?
Zivilgesellschaft ist ja ein sehr breit und diffus verwendeter Begriff. Wir könnten sie schlicht als eine Sphäre innerhalb der bestehenden demokratischen Ordnung diskutieren, in der zeitweise oder regulär Beteiligung möglich ist. Aber auch als Ort eines kontinuierlichen Kollektivierungsprozesses von Entscheidungen im Sinne einer Verschiebung der Machtverhältnisse. Also mit einer bewussten Perspektive auf die – auch radikale – Veränderung der Gesellschaft.
Am Wesen des breiten zivilgesellschaftlichen Engagements ab Sommer 2015 wurde ja immer wieder ihre systemstabilisierende Wirkung kritisiert, vor allem im Hinblick auf das Übernehmen staatlicher Aufgaben durch zu viel Betreuung und Voluntarismus. Das fand ich insofern überraschend, weil diese Lesart die Flüchtlinge selbst gar nicht als Akteur*innen mitdenkt – und auch nicht, dass sie diejenigen waren, die durch ihr Handeln sowohl die Regierenden als auch die sogenannte Zivilgesellschaft herausgefordert und deren Bewegung erst notwendig und möglich gemacht haben.
Insofern war das Ganze für mich zivilgesellschaftliche Bewegung im besten Sinne: sie kam von unten, sie warf große wie kleine politische Fragen auf, die unverzüglich nach Antworten verlangten, sie war transnational, brach die Spielregeln, führte Konflikte herbei und zwang alle, auf die eine oder andere Weise zu handeln.
Dass darauf teils mit einiger Verzögerung repressive Politik, „Kulturkämpfe“ und schlicht auch Überlebenskämpfe folgen würden, das wusste man ja schon vorher. Gleichzeitig entstanden aber neue Netzwerke, Organisations- und Aktionsformen und die Hoffnung, dass auch in der Zukunft mehr Leute bereit sein werden, sich einzubringen, als noch in ruhigeren Zeiten angenommen. Die möchte ich auch in der Analyse nach der Ernüchterung nicht so leicht aufgeben. Denn mit einer „Ich hab‘s ja immer gesagt“-Einstellung kann man keine Politik machen.
Worin siehst du Notwendigkeiten zu zivilgesellschaftlichem Engagement im Gegensatz zu den Aufgaben staatlicher Politik?
So klar ist dieser Gegensatz gar nicht. Man muss sich nur mal etliche Kommunalpolitiker*innen in Österreich und sonst wo ansehen, deren Handeln auf der symbol-, aber auch realpolitischen Ebene in den letzten Monaten vor allem davon bestimmt war, den Rahmen des – auch gesetzlich – Möglichen auszudehnen, um die Herausforderungen zu meistern. Das ist vermutlich auch die Schwäche des Konzepts Zivilgesellschaft. Allzu schnell landet man bei starren Identitäten, hier eine scheinbar autonome Bewegung der „Bürger*innen“, dort die bösen Systemerhalter-*innen.
Notwendig ist, möglichst viele beteiligende Wege zu finden, dieses System mit aller Kraft herauszufordern und zu verändern, solange es nicht das Wohl aller in der Gesellschaft gleichermaßen berücksichtigt. Und das fällt beispielweise großen NGOs, die wie selbstverständlich zur Zivilgesellschaft gezählt werden, wahrlich auch nicht immer leicht.
Wenn wir die problematische Situation der Menschenrechte betrachten. Was sollten deiner Meinung nach Projekte, Gruppen und Organisationen zur Verbesserung beitragen?
Eine wesentliche Frage ist dabei wohl, wie „Projekte, Gruppen und Organisationen“ es schaffen können, das Augenmerk genauso auf grundlegende Veränderungen zu legen wie auf punktuelle Verbesserungen. Dieses Spannungsfeld ist natürlich mitunter das Herausforderndste, weil wir alle – egal ob als Individuum oder Organisation – nur bestimmte Ressourcen zur Verfügung haben. Wir können nicht jeden Kampf mit der gleichen Energie führen – und entwickeln sowieso selten die Wirkungsmacht, Kämpfe auch wirklich zu gewinnen, im Kleinen wie im Großen. So macht es Sinn, immer wieder genau zu analysieren, wo was zu holen ist, und was man als Individuum oder Organisation imstande ist, dazu beizutragen.
Mir ist bewusst, dass es ein sehr pragmatischer Zugang ist, aber ich bin überzeugt davon, dass gesellschaftlich nicht besonders stark aufgestellte Gruppen fehlende Strategien und Visionen nicht mit verausgabender Hingabe wettmachen können – oder umgekehrt. So ist die konkrete Aktion genauso notwendig wie der Gegenentwurf.
Ich möchte auf die Rolle von Kunst und Kultur zu sprechen kommen. Was können kritische Festivals wie die Wienwoche tatsächlich bewirken, wenn sie nicht als ein Spektakel unter vielen im konventionellen Kulturangebot untergehen wollen?
Es gibt ziemlich viel Raum zwischen „tatsächlich bewirken“ und „untergehen“! Ich kenne das natürlich auch von mir: Sobald Leute oder Initiativen, die einem nahestehen, mehr Ressourcen als sonst zur Verfügung haben, denkt man sich „endlich!“ und erwartet, dass sie die Strukturen, wenn nicht sogar die Welt verändern, am liebsten gleich am ersten Tag. Solche Erwartungen sind natürlich maßlos überzogen, ganz einfach, weil Wienwoche und ähnliche Projekte nicht im luftleeren Raum agieren. Auch „kritische Kulturprojekte“ sind eingebettet in gesellschaftliche Verhältnisse, auch sie müssen mit den jeweiligen Mitteln und Rahmenbedingungen umgehen, die ihnen zur Verfügung stehen
Im konkreten Fall von Wienwoche waren uns miteinander eng zusammenhängende Fragen besonders wichtig: Was ist die Kritik an den von der Kunst- und Kulturförderung geschaffenen Produktionsbedingungen? Und welche Arbeitsweisen und Rahmenbedingungen möchten wir stattdessen? Und wie können kritische Akteur*innen ihre Positionen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln so nach außen vermitteln, dass sie nicht nur am Rande wahrgenommen, sondern tatsächlich gehört, diskutiert werden und im Idealfall zu Veränderungen beitragen? In der Bewertung der „tatsächlichen“ Wirkung von Kulturprojekten wird nicht selten übersehen, dass dabei auch Arbeitsprozesse stattfinden und somit nicht nur Ergebnisse präsentiert werden. Wienwoche ist im Grunde eine mit Steuergeld finanzierte Möglichkeit, neue Antworten auf solche Fragen auszuprobieren und dabei auch oft Verinnerlichtes zu verlernen. Das scheint mir einer ihrer wichtigsten Beiträge zu sein.
Was würdest du abschließend der aktivistischen Szene in Kunst, Kultur und Medien am liebsten ins Stammbuch schreiben?
Das sind ja drei Stammbucheinträge auf einmal. Wenn es für alle drei Bereiche gelten soll: Um einen gut durchdachten Plan kommt man auch als Aktivist*in nicht herum.
Can Gülcü, lebt in Wien und war 2012—2015 Teil des Leitungsteams von WIENWOCHE (www.wienwoche.org) und 2012—2014 Teil des Leitungsteams der Shedhalle Zürich (www.shedhalle.ch).
Er ist Lehrbeauftragter im Institut für Pädagogische Professionalisierung an der Karl-Franzens-Universität Graz, hat davor an der Akademie der bildenden Künste Wien gelehrt; Arbeitsschwerpunkte in der Kulturarbeit sind Fragestellungen zu gesellschaftlichen, politischen und sozialen Machtverhältnisse.
Zuletzt geändert am 23.03.16, 00:00 Uhr
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